Hallo an alle ehemaligen Kurkinder,
mein großer Bruder und ich waren drei Sommer hintereinander 4 Wochen in Bad Sachsa, welches Haus es war weiß ich nicht, unsere erste Kur war 1993.
Ich dachte immer das dieses Kurhaus eine Ausnahme sei und hatte keine Vorstellung davon, das wir ziemlich am Ende eine erschreckenden Geschichte teil hatten.
Demütigungen waren zu dieser Zeit ebenfalls noch an der Tagesordnung, stundenlanges Sitzen, bis man aufgegessen hatte, bis spät in die Nacht, egal ob man das Essen mochte oder sogar erbrach – unser Graus war vorallem Milchreis mit Zimt und Zucker, noch heute wird mir bei diesem Geruch schlecht.
Die Post wurde vor dem gesamten Speisesaal vorgelesen, aber bekommen hat man sie selbst nicht und um ehrlich zu sein, ich kann mich nicht dran erinnern das wir überhaupt Briefe nach hause schreiben durften…
Einmal in der Woche wurde unsere Wäsche gewaschen, ausgeteilt wurde sie nach dem Mittagessen (jedes Kleidungsstück musste im Vorfeld mit Namen von den Eltern gekennzeichnet werden), jedes Teil wurde hochgehalten und der Name vorgelesen, damit sich das besagte Kind sein Teil holen konnte. Wenn etwas nicht markiert war, gab es riesigen Ärger. Meldete sich der Besitzer, bekam er eine Standpauke vor dem gesamten Speisesaal. Meist meldeten sich die Kinder dann nicht mehr und die Betreuer sagten dann einfach ‘so, wenns niemanden gehört, kommts in den Müll’ – und sie warfen es wirklich weg.
Dieser eiskalte Umgang, vorallem vor der ganzen Gruppe, war wohl deren Schlüsselelement. Ich erinnere mich an einen ‘klassischen’ Ablauf am ersten Tag, alle Kinder wurden gleich nach Ankunft in den Speisesaal gebracht, mussten sich setzen und wurden dann einzelnd nach vorne auf einen Stuhl gerufen, in Blickrichtung zu den anderen Kindern. Dann wurde man grob am Kopf von einem Betreuer gepackt, der die Haare nach Läusen absuchte. Es war so peinlich und beschämend für alle. Einmal schickte uns unsere Mutter mit Läusen in die Kur, wir hatten sie nur wenige Tage zuvor aus dem Kindergarten mitgebracht und sie bekam sie auf die Schnelle nicht weg, wollte aber das wir zur Kur fahren…
Mein Bruder und ich wurden wahrhaftig fertig gemacht, man beschimpfte uns aufs Übelste, im Anschluss zerrte man uns in den Waschraum, der Kopf wurde ins Waschbecken gedrückt und mit irgendeinem stinkenden Zeug übergossen, es folgte grobes Schrubben und schmerzhaftes Kämmen. Und wehe man beschwerte sich oder gab nur einen Mucks wegen irgendetwas von sich.
Es musste alles penibel so gemacht werden, wie es die Betreuer von uns verlangten, ob wir wollten oder ob das überhaupt noch fair war, interessierte dort niemanden.
Was für meinen Bruder und mich besonders ekelig war, war das wir nachts unter dem Schlafanzug keine Unterhosen tragen durften. Wir schlichen uns nachts an unsere Schränke, damit wir dennoch eine anziehen konnten, wurde man dabei erwischt, gab es richtig Ärger. Die Strafen waren meist die gleichen, wenn es um Schlafen ging, ob man nun mit anderen leise flüsterte, kicherte oder ob man weinte weil man Heimweh hatte oder sogar schlecht geträumt hatte – die Nachtschwester (in der gefühlsmäßigen Vorstellung von uns damaligen Kindern wie Freddy Krüger) holte einen sofort aus dem Zimmer und setzte und entweder so auf den Flur auf dem Boden oder in den Waschraum auf die kalten Fliesen.
Ich verbrachte viele Nächte auf diesen alten, grau melierten Fliesen. Ich saß da mit meinem pinken Kuscheltier-Nilpferd, meist setzte ich mich sogar auf das Nilpferd drauf, damit ich nicht zu sehr am Hintern fror. Die Toiletten mit ihren schwarzen Klobrillen stanken ekelhaft, das Licht brannte die ganze Nacht, schlafen konnte ich dort natürlich nicht. Mein Bruder erzählte mir später, das er hingegen oft auf dem Flur hockte.
Einmal waren wohl alle Strafplätze belegt, jedenfalls wurde ich von der Nachtschwester in den ganz großen Schlafsaal gezerrt, wo die ganzen ‘großen’ Jungs schliefen, ich schätze so zwischen 9 und 12 Jahre alt, es waren sehr viele Hochbetten, nur ein einfaches war da, direkt bei der Tür. Ich musste mich ohne Decke und Kissen auf ein unteres Bett legen, bekam die Drohung ‘wehe wenn ich nochmal was von dir höre..’ und dann war es wieder dunkel.
Kaum war die Frau weg, erklang ein leises Wimmern, vorne auf dem Einzelbett lag ein kleiner Junge. Ein größerer Junge schlich ganz leise zu ihm und tröstete ihn, ich bekam grob mit, das der kleine Junge kurz vor mir hergebracht wurde.
Solche Szenen spielten sich sehr oft dort ab.
An manchen Tagen haute ein Kind einfach ab, es gab ein Mädchen, Jasmin, eine der größeren, sie schaffte es über das Zauntor im hinteren Gartenbereich zu klettern und rannte, soweit sie nur konnte. Daraufhin startete man eine regelrechte Hetzjagd, alle Kinder mussten mitkommen und sie suchen, jedes Kind bekam den Zorn zu spüren, nur weil sie getürmt war.
Jasmin hielt es nicht mehr aus, sie war eines der ‘Abnehmkinder’, sie hatte so großen Hunger, verständlich, wenn man morgens nur eine halbe Scheibe Schwarzbrot mit mageren Käse essen darf und nicht mehr bekommt. Meinem Bruder erging es in unserem dritten Jahr auch so, ich schmuggelte von meinem Frühstück für ihn immer etwas mit raus, wenn es möglich war.
Die meiste Zeit verbrachten wir draußen auf dem Spielplatz, der war wirklich toll und groß, aber wir waren halt fast immer dort… Ab und zu wurden ‘Wanderungen’ gemacht, das waren dann gute zwei Stundenmärsche Berg auf, Berg ab, mit der gesamten Einrichtung, also mal eben so 80 Kinder (zwischen 3 – 14 Jahren). Es war so heiß, ich war meist ganz hinten und quälte mich Schritt für Schritt, auch dafür wurde man angemeckert und ggf bestraft, wenn das für diese Betreuer ‘nötig’ war.
Ich kann mich nicht erinnern das wir dort geschlagen wurden oder Erbrochenes essen mussten, aber diese Betreuer setzten ihren Willen überall durch, mit allen Mitteln, die sie an uns setzen konnten. Wenn auffiel das jemand etwas mochte, konnte man sich sicher sein, das die Betreuer einem genau das verbaten oder sogar verlangen etwas ganz anderes zu machen, was man überhaupt nicht mochte.
Es war kein toller Ort, wie alle Erwachsenen behaupteten und solche Fragen wie ‘wars schön?’ oder ‘hattest du Spaß?’ sind bei mir als Kind nur auf völliges Unverständnis gestoßen, ich konnte nicht einmal darauf antworten, so seltsam fand ich diese Frage nach so einem Kuraufenthalt.
Gibt es noch jemand, der Anfang der 90er dort war und ähnliches erlebt hat?
Bei diesem Kurhaus war es auch Tradition das man einmal in diesem 4 Wochen in eine Tropfsteinhöhle ging und das Kasperle Theater (immer die gleiche Vorstellung) vorgeführt wurde.
Kira